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Im Gespräch mit einem Notfallsanitäter
 
       
       
Daniel Knogler

Notfallsanitäter der Berufsrettung Wien

Leben
09.06.2022
Daniel Knogler wurde 1992 geboren, ist seit sechs Jahren bei der Berufsrettung Wien im Einsatz und engagierte sich davor vier Jahre beim Roten Kreuz in seinem Heimatbundesland Oberösterreich. Ursprünglich hat er Alten- und Krankentransporte im Zuge des Zivildienstes betreut und sich danach kurzerhand dafür entschieden, hauptberuflich im Gesundheitswesen zu arbeiten.

Wann hast du dich dazu entschieden, Notfallsanitäter zu werden, und aus welchen Gründen?

Mit einem sozialen Beruf habe ich grundsätzlich immer schon ein wenig geliebäugelt. Es ist abwechslungsreich, du bist nicht an einen Sessel in einem Büro gefesselt, und es ist ein sehr befriedigendes Gefühl, wenn man für einen Patienten etwas zum Positiven ändern konnte, weil ein Einsatz gut verlaufen ist. Es ist schön, wenn man im Team gut gearbeitet hat für einen Menschen, der vielleicht gerade einen der schlimmsten Tage seines Lebens hatte.

Abwechslungsreich heißt aber wahrscheinlich auch, dass man schreckliche Sachen sieht.

Ja, natürlich, das gehört zum Rettungsdienst dazu. Man sieht bereits am Anfang relativ schnell, ob einem das liegt oder nicht. Manche schnuppern hinein und merken, dass das nichts für sie ist. Das ist auch völlig normal, weil ich glaube, dass der Mensch nicht dazu gemacht ist, solche Dinge in einer Regelmäßigkeit zu sehen. Wir alle haben aber sehr gute Mechanismen, um vieles zu kompensieren. Ich möchte nicht sagen, dass man abstumpft, aber man gewöhnt sich an gewisse Dinge.
»Die erste tote Person, die man sieht, ist etwas Besonderes«

Wenn du an deine Zeit als Jungsani zurückdenkst: Welche Momente haben dich damals komplett überfordert oder geschockt, die dich heute hingegen total kaltlassen oder bei denen du heute einfach ruhig bleibst? Anders gefragt: Wie abgebrüht bist du mit der Zeit geworden?

Die erste tote Person, die man sieht, ist etwas Besonderes. Jeder, der in so einem Beruf arbeitet oder durch andere Umstände einen toten Menschen gesehen hat, wird mir zustimmen. Von Mal zu Mal eines verstorbenen Patienten, von Mal zu Mal einer schweren Verletzung oder psychischen Ausnahmesituationen gewöhnt man sich mehr und mehr daran. Jeder, der länger in diesem Job bleibt, findet eigene Kompensationsmechanismen. Man redet mit Freunden oder mit der Freundin oder mit der Familie, vor allem aber auch mit seinen Kollegen im Team. Meistens spricht man direkt nach dem Einsatz darüber, speziell nach sehr fordernden Einsätzen. Wir rekapitulieren den Einsatz dann aus unterschiedlichen Perspektiven – gerade wenn es sich um etwas sehr Belastendes handelt. Wir fragen dann schon, wie es den betroffenen Kollegen geht und haben damit ein gutes Auffangnetz. Wenn das nicht ausreicht, haben wir auch Psychologen, um einer posttraumatischen Belastungsstörung entgegenzuwirken.

Was waren die bisher herausforderndsten Momente, mit denen du konfrontiert wurdest?

Emotional oder fachlich?

Ich hätte jetzt an emotionale Herausforderungen gedacht, die du nach Jahren vielleicht immer noch im Kopf durchspielst. Gerne aber auch fachlich.

Für mich sind psychiatrische Patienten, die sich in einer manifesten Psychose befinden, die herausforderndsten Einsätze. Die sind am anstrengendsten und damit emotional am herausforderndsten. Mit so einem Einsatz bist du meistens länger beschäftigt, weil abgeklärt werden muss, wie man mit dem Patienten verfährt und wohin man ihn bringt. In Wien gilt das System, dass man Patienten nach ihrem Hauptwohnsitz in eine psychiatrische Einrichtung einweist. Wenn man keine Patientendaten hat und somit auch nicht die Meldeadresse verifizieren kann, gibt es zwar eigene Regelungen, der gesamte Prozess mit der Melderegisterabfrage dauert dann aber etwas länger. Was auch einen speziellen Eindruck hinterlässt, sind Einsätze, bei denen Kinder kritisch verletzt sind. Generell kommt es auf die Gesamtsituation an. Wenn du zu einem Patienten kommst, der ohne sonstige involvierte Personen schwer verletzt ist, ist es einfach gesagt Patient X, den ich davor noch nie getroffen habe und zu dem ich keine Beziehung habe. Wenn aber im Nebenzimmer die Gattin mit zwei kleinen Kindern auf eine erlösende Nachricht wartet, ist dieser Patient X auf einmal ein Familienvater. Durch diesen kleinen Unterschied ist es eine komplett andere Situation und eine komplett andere psychische Belastung.
»Es ist okay zu sagen, dass es einem nicht gut geht«

Du meintest vorhin, dass der Mensch nicht dazu gemacht ist, regelmäßig mit solchen Situationen konfrontiert zu sein.

Davon bin ich überzeugt, ja. Manche Menschen können sich dem anpassen und können kompensieren, weil sie emotional anders konstituiert sind oder weil sie einen für sich funktionierenden Kompensationsmechanismus gefunden haben. Man gewöhnt sich an all das und es macht augenscheinlich keine Probleme. Irgendwann holt es aber auch die Personen ein, die es jahrelang gut kompensieren. Man muss immer auf der Hut sein und sollte auch gewisse Stigmata durchbrechen. Es ist kein Anzeichen von Schwäche, wenn es jemandem nach einem Einsatz nicht gut geht.

Das heißt, dass man ruhig auch mal weinen kann.

Ja, genau, das ist völlig normal. Es ist auch vollkommen okay zu sagen, dass es einem danach nicht gut geht. Man sollte sich rasch in professionelle Hilfe begeben, wenn man merkt, dass mit einem etwas nicht stimmt.

Kommt es vor, dass man nicht mehr in den Dienst kommt, weil es einfach nicht mehr geht, und man sich karenzieren lässt?

Ich kann mich an keinen Fall erinnern, bei dem es so war. Oder anders gesagt: Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo das als Grund genannt wurde. Wenn es ein psychisch wirklich extrem fordernder Einsatz ist, was ehrlicherweise die wenigsten sind, kommt es schon vor, dass man für den Rest des Dienstes freigestellt wird. Das ist, aus meiner Sicht, auch die absolut richtige Herangehensweise. Wenn jemand offensichtlich vom Geschehnis beeinträchtig ist, hat weder der Mitarbeiter selbst etwas davon noch die weiteren Patienten.

In medizinischen Berufen soll schwarzer Humor sehr stark ausgeprägt sein, um belastende Erlebnisse zu kompensieren.

Das kann ich zu 100 Prozent bestätigen.
Im Interview mit einem Notfallsanitäter

Stellen wir uns vor, eure Scherze aus der Dienststelle werden geleakt ... könnte daraus ein Skandal entstehen à la »So witzeln unsere Rettungssanitäter!«?

(lacht) Kommt auf die jeweilige Person an. Wenn jemand noch nie in Bereichen wie einem Rettungsdienst oder einer Notfallambulanz gearbeitet hat, also mit Patienten in Ausnahmesituationen zu tun hatte, kann ich mir schon vorstellen, dass die eine oder andere Wortspende irritierend sein könnte.

Sehr elegant formuliert.

Am Ende des Tages ist es ausschlaggebend, wie man mit den Patienten interagiert. Man hat häufig mehrere Einsätze hintereinander, obwohl dafür nicht mal der Rettungsdienst benötigt wird. Daher kommen wir oft nicht zum Mittagessen, und das geht auf die Substanz. Der Grund dafür ist, dass andere Bereiche im Gesundheitsdienst versagen – Öffnungszeiten der Hausärzte sind ein Beispiel dafür. Es kann aber auch daran liegen, dass manche Patienten nicht wissen, welche Anlaufstelle für ihr spezifisches Problem die richtige ist. Wann wählt man 144, und wann reicht es, dass man erst am nächsten Tag zum Hausarzt geht? 
»Andere Bereiche im Gesundheitsdienst versagen«

Man hört und liest immer wieder von belastenden Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich – Nachtdienste, Turnusdienste, Bereitschaftsdienste, Schichtbetrieb und so weiter. Wie sehr kann man auf diese Art und Weise voll einsatzbereit sein? Sehr gesund klingt das nicht.

Das stimmt. Wenn man über mehrere Jahre im Schichtdienst arbeitet, muss man für sich einen gewissen Ausgleich finden. Sport ist wahnsinnig wichtig, weil man für diesen Beruf fit sein muss. In Wien haben viele Häuser nach wie vor keinen Lift und dann müssen wir das gesamte Equipment beispielsweise in den fünften Stock tragen. Oft müssen Patienten umgelagert werden, und zwar so, dass es für uns nicht sonderlich rückenschonend ist, weil es die Situation im Moment einfach nicht anders zulässt. Neben der physischen Fitness hält Sport einen auch im Kopf fit und ist daher gut für die psychische Fitness.

Du meintest vorhin, dass ihr oft zum Einsatz kommt, weil andere Bereiche im Gesundheitsbereich versagen. Mit welchen Verbesserungen wäre allen Akteuren geholfen? Vom Notfallsanitäter über den Patienten, von der Krankenschwester bis zum Arzt.

Ich bin kein Gesundheitsökonom, daher kann ich nur über meinen Bereich sprechen. Für uns Notfallsanitäter wäre eine mehrjährige Ausbildung wahnsinnig wichtig. Die aktuelle Ausbildung basiert auf dem Sanitätergesetz von 2002 und ist im europäischen Vergleich rein vom Stundenvolumen am Minimum. In den meisten anderen Ländern handelt es sich um eine dreijährige höhere Fachschule oder sogar um ein Bachelor-Studium mit der Möglichkeit, ein aufbauendes Master-Studium zu wählen. Hebammen und Pflege- bzw. Therapieberufe genießen seit Jahrzehnten eine mehrjährige Ausbildung und sind im Zuge einer weiteren Professionalisierung akademisiert worden. Es ist für mich nicht verständlich, warum man sich in acht von neun Bundesländern mit einer 260-stündigen Ausbildung – 160 Stunden Theorie und 100 Stunden Praktikum im Rettungsdienst – für die medizinisch hauptverantwortliche Person im Rettungswagen zufrieden gibt. Das ist durch absolut nichts zu rechtfertigen!

Gab es bisher Situationen, in denen du falsch reagiert hast?

Die gab es sicher. Jemand, der das nicht hat, reflektiert offensichtlich überhaupt nicht über seine Einsätze. Wir arbeiten in einem wahnsinnig stressigen Arbeitsumfeld mit hin und wieder hochkritischen Patienten und müssen innerhalb kürzester Zeit unser Wissen abrufen und handeln – Dosierungen von Medikamenten, internationale Leitlinien, Standardarbeitsanweisungen, die richtige Kommunikation im Team. Da passieren auch mal Fehler, das ist so. Daher ist eine gute Fehlerkultur, gerade in diesem Bereich, wahnsinnig wichtig. Wenn Fehler passieren, muss man sie ansprechen und aufarbeiten, ohne mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Es geht darum, diesen Fehler zu analysieren und daraus zu lernen, damit er nicht nochmals passiert. Die Medizin im Allgemeinen – und die Notfallmedizin im Speziellen – orientiert sich hierbei zunehmend stärker an der Luftfahrt. Dort lernt man nach jedem Fehler dazu, wodurch sie meistens nur einmal passieren.
Notfallsani im Gespräch beim Kaffee

Bis wohin ist man als Notfallsanitäter zuständig, ab wann übernimmt der Notarzt?

Wir sind nicht dazu da, um Patienten zu heilen, sondern um die Patienten bis zu einer ärztlichen Versorgung zu stabilisieren und um weiteren Schaden abzuwenden.

Würdest du dir einen Luftröhrenschnitt zutrauen?

Die Frage stellt sich nicht, da das nicht in unserem Tätigkeitsbereich, sondern in dem der Notärzte liegt, die in dem Fall Anästhesisten oder Notfallmediziner sein sollten.

Wenn der Notarzt nicht vor Ort ist und es notwendig wäre, würdest du es machen?

Ganz ehrlich: Nein, würde ich nicht. Bei dieser Maßnahme brauchst du Übung. Wir haben es in der Ausbildung zum Notfallsanitäter zwar am Simulator trainiert und theoretisch durchgemacht, aber solch eine Maßnahme ist schon in einem OP herausfordernd und verlangt einem viel ab. In einem präklinischen Setting ist es nochmals ganz etwas anderes. Wenn du – theatralisch gesprochen – in der Nacht im Straßengraben liegst und es vielleicht noch regnet, wird die ganze Situation dadurch zusätzlich erschwert.

Musstest du deine beruflichen Fähigkeiten bereits in deiner Freizeit einsetzen?

Es gibt eine Lebensretter-App für Sanitäter in der einsatzfreien Zeit. Die App sieht, ob du in einem Radius von, ich glaube, ca. 500 Metern anwesend bist, wenn ein Patient beispielsweise einen Herzstillstand hat und eine Reanimation benötigt. In dem Fall würde ich eine Nachricht erhalten und könnte sofort hinlaufen und mit der Herzdruckmassage beginnen oder mit einem öffentlich zugänglichen Defibrillator behilflich sein. Diese Sofortmaßnahmen können tatsächlich Leben retten, weil das Gehirn dadurch nicht zu lange sauerstoffunterversorgt bleibt. Über diese App bin ich schon dreimal in meiner Freizeit zum Einsatz gekommen.
Interview beim Kaffee mit einem Notfallsanitäter

Kannst du gewisse Saisonalitäten feststellen? Sprich: Wenn du zu Silvester gerufen wirst, weißt du dann schon, dass es sich um einen Unfall mit Feuerwerkskörpern handelt? Oder dass jetzt im Sommer Bade- bzw. Motorradunfälle zunehmen werden?

Empirische Daten habe ich jetzt keine parat, die gefühlte Wahrheit ist aber, dass in der warmen Jahreszeit gewisse Patienten für Kreislaufprobleme anfällig sind – ältere Menschen oder junge, schlanke Frauen zum Beispiel. Wenn die unterwegs sind, wenig trinken und schwitzen, kollabieren sie. Im Nachtdienst sind von 23 bis 3 Uhr am Wochenende viele intoxikierte Patienten unterwegs – sei es mit Alkohol oder anderen Substanzen. Und von 4 bis 6 Uhr früh beginnen die Körperverletzungen.

Was ist dir persönlich am unangenehmsten? Sind es Betrunkene, die sich übergeben? Sind es gewalttätige Personen, die dich anpöbeln, obwohl du helfen willst? Was nervt dich bei Einsätzen so richtig?

Frustrierend wird es, wenn wahnsinnig viel los ist und ich an einen Patienten gebunden bin, der mich nicht unbedingt braucht. Wenn dann ein Rettungsauto gebunden ist und nicht zu einem anderen wirklich wichtigen Einsatz kommen kann, ist es frustrierend. Ansonsten ist es mir persönlich mittlerweile eher egal, wohin ich fahre, da wir die meiste Zeit sowieso im Rettungswagen verbringen. Manchmal kommt es vor, dass die Rettung gerufen wird und der Patient zeigt einem einen kleinen Schnitt, für den man selbst nicht mal zum Pflaster gegriffen hätte.

Zum Abschluss unseres Gesprächs: Hast du einen Rat parat, um Notfälle zu vermeiden?

Wir sind mit vielen multimorbiden Patienten beschäftigt, also Patienten mit unterschiedlichen Krankheiten, die mehrere Medikamente nehmen müssen. Das fängt häufig mit 40 Jahren an und kann unterschiedliche Gründe haben, wie beispielsweise einen ungesunden Lebensstil oder eine genetische Prädisposition. Wenn sich Patienten mehr mit ihren Krankheiten auseinandersetzen würden, würde es viele Einsätze verhindern und auch ambulante Behandlungen oder Hausarztbesuche verringern. Was ist zu tun, wenn dieses oder jenes auftritt? Die aufgeklärtesten Patienten sind wahrscheinlich diejenigen mit einem Diabetes mellitus, also zuckerkranke Menschen. Die meisten haben diese Krankheit sehr gut im Griff. Andere chronische Erkrankungen haben einen hohen Aufholbedarf.

Lieblings-

Buch: 1984 (George Orwell)
Film: No Country for Old Men
Song: How bizarre (OMC)
Schauspieler/in: Georg Friedrich, Matthew McConaughey 
Motto: Alles kann, nichts muss.
Autor/in: Daniel Schreiber 
Serie: Breaking Bad 
Stadt: Lissabon
Land: Australien
Gericht: Pizza 
Getränk: Zwickel-Bier

Schönstes und negativstes Erlebnis der vergangenen Woche

Letzte Woche war unglaublich fad. (lacht)

Persönliches Mitbringsel

Mein Motorrad, eine gebrauchte Moto Guzzi V7 III Rough. Ich habe den Führerschein am Anfang der Pandemie gemacht, bin also noch Anfänger und habe eine wahnsinnige Freude mit dem Motorrad.
gebrauchte Moto Guzzi V7 III Rough

Berufswunsch als Kind

Kampfpilot. Nicht dass ich Bomben abwerfen oder Kriegsgebiete beschießen wollte. Es war die technische Begeisterung für Jets.

Wen wolltest du immer schon einmal treffen?

Falco

Teenie-Schwarm

Gwen Stefani

Café-Bestellung

Cappuccino und Soda-Zitron

Ort des Interviews

Café Balthasar
Das Café Balthasar befindet sich auf der Praterstraße und gilt als eine der besten Wiener Kaffeebars. Sogar der erste Talkaccino-Interviewpartner – Kaffeeröster Helmut Brem – hat das Balthasar als eines seiner Top-3-Kaffeehäuser Wiens, abseits des eigenen, hoch lobend erwähnt. Neben großartigem Kaffee und leckerer Pâtisserie bietet das Balthasar auch Barista-Workshops an. Geöffnet ist Montag bis Samstag, an Sonn- und Feiertagen ist geschlossen.